Neapel sehen und staunen


 
Der Vesuv scheint zu glühen

Wenn man Neapel hört, dann denken viele an Mafia, Verbrechen, Morde, Diebstahl, Betrügereien, Berge von Abfall, chaotischer Verkehr, natürlich an den Vesuv und Pompeij. Manche denken auch an das Blutwunder des San Genaro, eines Märtyrers des 4. Jahrhunderts, dessen Blut in einer Ampulle aufbewahrt wird und das sich zweimal im Jahr verflüssigt, es sei denn der Stadt steht ein Vulkanausbruch, ein Erdbeben oder eine andere Katastrophe bevor. 
Das Schönste an Vorurteilen ist die Überraschung, wenn Vorurteile sich in Luft auflösen, wenn man feststellt, dass vielleicht in allem ein Körnchen Wahrheit steckt, dass aber die Lebenswirklichkeit meisten sehr viel differenzierter ist als die Vorurteile annehmen. Das gilt für Flüchtlingen genauso wie für Städte. 
Ja, die Stadt ist Weltkulturerbe und bei einem Weltkulturerbe besteht die große Gefahr, dass es völlig von Touristen überrannt wird und die eigentliche Stadt, das Gewusel und das Alltägliche vom Touristennepp verdrängt wird. Von dieser Gefahr ist Neapel als Großstadt auch in der Hauptsaison gefeit, wir genießen aber wieder einmal die Vorteile der Vorsaison, eine Woche im Februar, der wir dem grauen, schmuddeligen Berliner Wetter entfliehen und in einem wunderbaren Vorfrühling ankommen. Die Museen sind leer, die Hotels preiswert, die Kellner freundlich und es ist kein Problem einen Platz in einem Restaurant zu bekommen. Und dort, in einem Restaurant wird dann doch ein Vorurteil bestätigt, das wir als Vorurteil abgetan haben. Ein Gitarrenspieler kommt herein und spielt neapolitanische Lieder und irgendwann beginnen einige der Gäste mitzusingen. Laut, mit großer Stimme und es gibt Applaus. Musik ist überall in der Stadt zu hören. 
Wir besichtigen die Stadt. Vor dem beeindruckenden Königspalast wird gerade die neue Metro gebaut. Durch die Bauzäune werden wir auf das Konzept der neapolitanische Metro aufmerksam. Die bedeutendsten Architekten der Welt schaffen die Bahnhöfe, die teilweise tief in der Erde liegen. Soweit, so gut. Aber da diese Metro die schönste der Welt werden soll, wurden und werden für jede Station die bedeutendsten Künstler der Welt gebeten, diese mit Kunst auszustatten. William Kentridge und Rebecca Horn sind nur zwei Namen dieser illustren Gesellschaft. In der bereits bestehenden Station Toledo kommen wir am nächsten Tag aus dem Staunen nicht heraus. Tief unter der Erde liegt der Bahnhof, sicher 40 oder 50 Meter tief. Wir fahren auf langen Rolltreppen von unten nach oben. Ganz unten sind die mosaikartigen Fliesen dunkelblau und je höher wir kommen, desto mehr mischen sich hellblaue und weiße darunter. Symbolisch steigen wir vom Meeresgrund auf zur Meeresoberfläche, bevor die Brandung sich am Felsen bricht und die Fliesen die Farbe des Gesteins annehmen und schließlich in einem Mosaik von William Kentridge enden, das an die römischen Mosaike in Pompeij erinnert. 
Ebenso staunten wir ein paar Tage später an der Stazione Centrale, wo uns ein wohlinszeniertes Rolltreppengewirr, durch dezente Spiegelungen verstärkt, in 40 oder 50 Meter Tiefe führt. 
Noch etwas fällt uns auf, etwas, was in unseren Breitengraden nahezu verschwunden ist: Die große Bedeutung der Religion. In einer Kirche treffen wir auf eine Prozession der Tempelritter, 50 oder 60 Frauen und Männer, alle in einer weißen Kutte mit rotem Kreuz auf Brust und Rücken, ziehen von dort ernst durch die Stadt. Faszinierend fremde Vergangenheit. Aber nicht nur diese Ritter zeigen das, gefühlt steht alle 50 Meter eine Kirche, unmöglich alle zu besuchen. In den Beichtstühlen der Kirchen warten Priester auf Menschen, die die Beichte ablegen wollen und Menschen kommen und knien davor und beichten. Alte, Junge, Männer, Frauen.
Bei uns ist der Beichtstuhl durch den Psychotherapeuten ersetzt worden, vielleicht aber diente die Beichte jahrhundertelang genau demselben Wunsch sich auszusprechen, die eigenen Sorgen loszuwerden. Das können wir zum Beispiel in der Kirche Gesu Nuovo erleben, eine Barockkirche, die mit seiner goldenen Pracht nicht so unserm Geschmack entspricht, aber die Fresken in der Kirche sind überwältigend schön. Wir ahnen nicht, dass wir in den nächsten Tagen von einer Inflation von Fresken überrollen werden, eine schöner als die andere. Die Fresken strahlen in leuchtenden Farben und von dem Moment an, bleibt uns im wahrsten Sinne des Wortes der Mund offen stehen, weil wir aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. 
Die Kirchen, die Museen, die Klöster, die Gärten, die Fassaden, die Palazzi, die Plätze, die Monumente beeindrucken durch künstlerischer Qualität, sogar die Straßenkunst machen einem Banksy Konkurrenz, auch wenn diese Künstler hier nicht weltberühmt sind und vermutlich ein bescheidenes Leben fristen.  Sie sind aber nicht weniger kreativ, nur hat sie der international, gefräßige Kapitalismus noch nicht in die höchsten, finanziellen Höhen gehypt. Das mag auch daran liegen, dass sie nicht mit Bedeutung geschwängert daherkommt, sondern mit Witz. Feine Ironie ist selten ein Kassenschlager. 
Ein Beispiel dafür sind die großformatigen Fotos, die im archäologischen Museum hängen. Es sind neapolitanische Straßenszenen, in die aber die berühmten Plastiken des Museum hineinmontiert wurden. Man sieht Aphrodite mit Plastiktüten voller Lebensmittel im Gespräch mit dem Gemüsehändler oder eine halbnackte Nymphe vor der Stadtkulisse von Neapel ein Selfie machend oder ein junger Mann mit Bart, der in der vollen U-Bahn inmitten der anderen Fahrgäste steht und sich an der Haltestange festhält. Diese und viele andere Fotomontagen hängen zwischen den Originalstatuen und lassen uns laut auflachen.
Neapel ist jedenfalls eine Stadt vollgestopft mit Kunst aus 2500 Jahren, Kunst in Hülle und Fülle, überall und unübersehbar. Die Kirchen quellen über, nicht nur von Fresken, sondern von Plastiken aus Marmor, Terrakotta, Bronze von unvorstellbarer Schönheit. Vor der die Sant’Anna dei Lombardi werden wir von einem Mitarbeiter angesprochen und gedrängt in die Kirche zu kommen. Obwohl wir erschöpft sind, entschließen wir uns hineinzugehen und wieder bleibt uns der Mund offen stehen. Ein Marmoraltar mit der Geburt Christi, gekrönt von einer Schar von Engeln, darüber halten drei Putten eine marmorne Blumengirlande. Das Ganze vielleicht zwei, drei Meter hoch. Das Besondere aber sind die jubilierenden Engel. Vielleicht 20 Engel tanzen vor Freude über der Krippe. Sie sind gerade mal 10 oder 15 cm hoch. Ihre Gewänder haben einen außergewöhnlich starken Faltenwurf im Miniaturformat und wir fragen uns, wie man so fein arbeiten kann. Auch die vielleicht 30 cm hohen Putten strahlen eine Natürlichkeit aus, die uns ungewöhnlich erscheint, aber dabei bleibt es nicht, in jeder Seitenkapelle finden wir kleine Wunder bis uns schließlich die Sakristei erschlägt, ein überaus prachtvoller Saal mit wertvolle Holzintarsien und Fresken von Vasari.
Am Beeindruckendsten ist jedoch eine lebensgroße Figurengruppe aus Terrakotta. Es handelt sich um die Beweinung Christi.
Die Beweinung Christi


Der Leichnam von Jesus Christus liegt auf dem Boden und um ihn herum sind sieben Figuren gruppiert, vier Frauen, drei Männer, vom Leid gezeichnet, kniend, weinend, sich über den Leichnam beugend, mitten in der Bewegung. Es ist eine Szene tiefer, ergreifender, menschlicher Trauer, unvergänglich, zeitlos, berührend. Ebenso bewegend ist eine Figurengruppe, die wir am nächsten Tag im archäologischen Museum sehen.  Sie, 1500 Jahre früher entstanden, zeigt das Leid des Krieges.  Vor uns liegen vier marmorne Krieger, nein genauer, eine Kriegerin und drei Krieger. Die Amazone und ein Krieger liegen tot auf dem Rücken, die Schwerter sind ihnen aus der Hand gefallen, der dritte, auf der Seite liegend, wirkt als wäre er in der Zwischenwelt zwischen Leben und Tod. Der Vierte von einer schweren, nicht mehr vorhandenen Lanze in den Rücken getroffen, sinkt gerade zu Tode verwundet nieder.
Vier Krieger

Am meisten beeindruckt uns aber die dritte gleichartige Szene, eine Szene weniger Kunst als vielmehr grausame Wirklichkeit. In Herculaneum besuchen wir die Ruinen der römischen Stadt. Heute liegen die Ruinen vielleicht einen Kilometer vom Meer entfernt. Als der Vesuv ausbrach im Jahr 79, lagen die letzten Häuser aber direkt am Strand. Dort befinden sich fünf große gemauerte Nischen, vielleicht waren es Bootshäuser oder Lagerräume oder so etwas. Ihre Öffnungen weisen in Richtung des Meeres, dessen Wellen dort an den Strand schlugen. In diesen Nischen sehen wir Gebeine, mal zwölf, mal zwanzig Schädel zählen wir. Hierhin hatten sie sich vor der heranströmenden Lava geflüchtet, an einen Ort, den auch ich gewählt hätte, darauf hoffend, hier geschützt zu sein. 2000 Jahre später stehen wir bewegt vor ihnen und betrachten sie, im Moment ihres Todes.
Es ist diese Vielschichtigkeit, die uns an Neapel so fasziniert.

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