Wir machen Stadtspaziergänge. Wir sind vier Freunde
und suchen Orte in Berlin, in die wir normalerweise nicht gehen. Orte, die kaum
in Reiseführern erwähnt werden, oder wenn, dann als No-Go-Area. Diese Hinweise
sind übrigens ein „Must“ in amerikanischen Reiseführern, denn wenn so ein
Hinweis fehlt, verkauft sich der Reiseführer nicht. Wir aber suchen das
Abseitige, das nicht touristische in unserer Stadt, weil wir in unserer Welt im
Westend oder in Steglitz nur einen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit erleben.
Diesmal treibt es uns in die Gropiusstadt. Die Großeltern
eines der Stadtspaziergänger haben dort gewohnt und er, der seit 45 Jahren
nicht mehr dort gewesen ist, will seine Erinnerung auffrischen. Bei Gropiusstadt
fällt es einem schwer den heimeligen Begriff Kiez zu wählen, denn es ist ein
Stadtteil, an dem man normalerweise vorbeifährt, wenn man zum Flughafen
Schönefeld will. Das war jedenfalls früher so, denn seit es die Autobahn gibt,
bekommt man auch auf diesem Weg nichts mehr mit von der Gropiusstadt. Wenn man
aber die lange Straße vom Herrmannplatz kommend entlangfährt, dann fallen einem
irgendwann, auf der rechten Seite Hochhäuser auf, die an einigen Stellen über
die straßenseitige Bebauung hinauslugen. Wie gesagt, meisten fährt man daran
vorbei. Dort liegt die Terra Incognita.
Quelle der Karte: Openstreetmaps |
Man muss also nur rechts in die Johannistaler Chaussee
abbiegen und schon ist man mittendrin in der Gropiusstadt. Ganz nah bei den
Gropiuspasssagen finden wir sofort das Haus in dem die Großeltern lebten. 12
Stockwerke, die Fassade sieht noch so aus, wie in der Erinnerung des Freundes.
Das Klingeltableau wirkt als stamme es aus der Bauzeit des Gebäudes und einigen
der Klingelschilder lassen uns vermuten, dass diese von den Mietern seien, die seit
Anbeginn hier wohnen. Drei Aufzüge befördern die Menschen von unten nach oben.
Es erscheint uns wenig, bei so einem großen Haus.
Gegenüber erklingen plötzlich die Glocken von der Martin-Luther-King
Kirche und dorthin zieht es uns. Der Gottesdienst ist gerade beendet.
Erntedank. Die Türen stehen weit offen, Rollstühle und Rollatoren kommen
heraus. Die Kirche wirkt, als wäre sie in eine tote Ecke gedrängt worden. Fast
scheint es uns, als hätten die Stadtplaner vor 70 Jahren die Situation der
Kirche in heutiger Zeit vorausgeahnt. Sie steht in einer Sackgasse.
Mich beschäftigt die Frage, welche Institution die
jahrtausendealte Funktion der Kirche heute übernehmen kann. Dabei geht es nicht
um die Religion, sondern um den selbstverständlichen, gesellschaftlichen
Mittelpunkt einer Gemeinde, Gemeinde im kommunalen, nicht im religiösen
Verständnis. Die Kirche war Treffpunkt eines jeden Ortes. Eine Stätte des Sehens
und Gesehenwerden, ein Ort für Neuigkeiten und Klatsch und Tratsch, ein Ort für
Geschäfte, ein wichtiges soziales Zentrum. Wo ist heute das soziale Zentrum
einer Gemeinde? In den sozialen Netzwerken? Sollen die tatsächlich gesellschaftlicher
Mittelpunkt werden? Auch sie sind ein Platz für Sehen und Gesehenwerden, für
Neuigkeiten und Klatsch und Tratsch, für Geschäfte, ein wichtiges soziales
Zentrum also. Ich bin skeptisch ob Facebook diese Funktion übernehmen kann,
aber vielleicht bin ich zu alt dafür, mir das vorstellen zu wollen.
Wir verlassen die Sackgasse und machen uns auf die Suche
nach der Walter-Gropius-Schule. Sie wurde von dem Meister des Bauhauses 1965
entworfen. Der gefeierte Mann, nach dem dieser Stadtteil benannt wurde, war ein
Vorreiter des industriellen Bauens und damit der Vater der Plattenbauviertel in
Ost und West. Gropiusstadt ist auch ein Plattenbauviertel, das man aber nicht
so nennt. Es scheint uns, als ob diese abwertende Bezeichnung nur für Neubaugebiete
im Osten genutzt wird, obwohl der einzige Unterschied zu einem
Plattenbauviertel West darin besteht, dass die Gebäudevarianten hier zahlreicher
sind als drüben. Wenn dem so ist, dann kommt die Überlegenheitsmentalität des
Westens auch in diesem Begriff zum Ausdruck.
Ja und wir stolpern kurze Zeit später über den Unterschied
zwischen Ost und West: Da liegt eine Reihenhaussiedlung in Flachbauweise
mittendrin. Kleine hutzelige Häuser mit Garten, umgeben von sechs- oder
achtgeschossigen Wohnhäusern. Wir sprechen kurz mit einem Ehepaar, das hier
seit vielen Jahren wohnt. Ihnen gehört das Haus.
Wir ziehen weiter, finden die Walter-Gropius Schule, ein
Baudenkmal, aber weil es Sonntag ist, können wir dieses Ensemble nur aus der
Entfernung betrachten. Gegenüber in einem türkischen Restaurant trinken wir
einen Kaffee. Wenige Gäste sitzen dort. Der Wirt ist nicht zufrieden mit dem
Geschäft, dass er vor zwei Jahren eröffnet hat.
Wir dringen weiter vor in diesen unbekannten Stadtteil und je
weiter wir kommen desto größer werden die Gebäude. Größer und höher. Ein
riesiges U-förmiges Gebäude liegt in baumreicher Umgebung. Es fasziniert in
seiner Waschbetonmonstrosität. Wir verstehen, warum nach dem Weltkrieg so
gebaut wurde. Die dunklen, krankmachenden Elendsquartiere der Berliner
Hinterhöfe waren den Stadtplanern jener Zeit ein abschreckendes Beispiel. Statt
dunkler dreckiger, stinkender Hinterhöfe sollten Luft, Grün und Sonne in die
Wohnviertel einziehen. Die Gartenstadtbewegung (Onkel Toms Hütte, Hufeisensiedlung)
hatte es in den 20er Jahren vorgemacht und da der Bedarf an Wohnungen nach dem
Krieg riesig war, hat man die kleinteilige Anlage der Gartenstadt in größere
Maßstäbe übertragen. Keine Dreigeschosser sondern 30-Geschosser, dazwischen ein
paar Sechsgeschosser gestellt und viel Grün drumherum. In diese Umgebung wurden
dann noch, wie in der Gartenstadt, die Gemeinschaftseinrichtungen hineingeworfen:
Schulen, Kirchen (an Moscheen hat damals noch keiner gedacht), Bibliotheken,
ein paar Geschäfte. Das alles finden wir im Zentrum des Kiezes. Ein
Gemeinschaftshaus mit Bibliothek und Ausstellungsräumen, daneben eine
katholische Kirche, ein türkischer Supermarkt, ein großer Springbrunnen, es ist
nett angelegt, aber trotzdem wirkt es tot. Unbelebt. Die wenigen Menschen
verlieren sich auf den großen Flächen.
Große Flächen führen dazu, dass Leere zu herrschen scheint.
Jeder kennt das, wer geht schon gerne in eine leere Kneipe? Leere führen zu
weniger Begegnungen, zu weniger sozialen Kontakten, weil man sich auf einen
großen Platz gar nicht so oft begegnen kann. Ein großer Platz führt zu weniger
Flirts, zu weniger Austausch, zu weniger Zufall. Diesen Fehler haben die
Stadtplaner der heutigen Zeit erkannt und reden seit 30 Jahren davon, dass die
Stadt „verdichtet“ werden muss. Damit ist gemeint, dass die Gebäude enger
zusammenstehen sollen und dazwischen weniger Freiflächen sind. Die kluge
Überlegung dahinter ist, dass dann die Straßen voller, belebter, interessanter
werden und mehr soziales Miteinander entsteht. Enge ist das Prinzip der Stadt
seit Tausenden von Jahren, man muss nur an die schmalen Gassen antiker oder mittelalterlicher
Städte denken. Staus und Probleme der Lieferanten kannte schon das alte Rom und
auch die Römer versuchten schon damals Verkehrsprobleme durch Fahrverbote zu
lösen.
Übertragen auf die Moderne kann man Verdichtung in New York
erleben. Da ist alles sehr viel größer, die Häuser höher und die Straßen
breiter und der Verkehr noch brutaler. Und weil dort so viele Menschen auf
engstem Raum leben, sind die breiten Straßen trotzdem voll. Menschen machen
eine Stadt interessant. Nichts ist öder als ein menschenleerer Ort.
Das mit der Verdichtung soll also zur Belebung der Stadt
führen und wahrscheinlich schafft man es damit auch. Da wir Menschen aber dazu
neigen, Entwicklungen in die eine oder andere Richtung zu übertreiben, stellt
sich uns die Frage, ob das Konzept der Gropiusstadt in Zeiten sich immer weiter
erhitzender Innenstädte, nicht doch eine ganz gute Idee ist.
So bleibt ein ambivalenter Eindruck von unserem
Stadtspaziergang zurück, Gropiusstadt ist ein gepflegtes Quartier,
interessanterweise gibt es kaum irgendwelche Graffitis, Gropiusstadt ist luftig
und grün, Gropiusstadt hat alles, was ein Stadtquartier braucht, aber Gropiusstadt
wirkt trotz allem wenig lebendig.
© Peter K. 2019
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