Ein wenig Kambodscha

Wenn man Kambodscha besucht, dann sollte der Besucher vorsichtig mit Urteilen sein. Wir messen mit europäischen Maßstäben, aber in anderen Ländern und Regionen ist dies falsch und gelegentlich schädlich. Viel mehr Eindrücke gewinnt man, wenn man sich auf die Kultur einlässt, Anknüpfungen zu machen, wo sie das Verständnis erleichtern und Fragen stellt, bevor Urteile gefällt werden.


Auf dem Tonle Sap
Es ist ein eigenartiges Gefühl für einen Europäer das erste Mal nach Kambodscha zu reisen. Unwillkürlich kommt einem das entsetzliche Morden der roten Khmer zwischen 1975 und 1979 in den Sinn. Drei der neun Millionen Kambodschaner fielen diesem Wahn zum Opfer. Erreicht man jedoch den Flughafen von Siem Reap (der Ort der zu Angkor gehört), so empfängt einen ein schöner, moderner, gepflegter Flughafen, der im Stil buddhistischer Tempelhäuser gebaut ist. Noch auf dem Flugfeld werde ich von meinen deutschen Freunden entdeckt,  die aus Laos kurz nach meiner Landung ankommen.
Die Einreiseformalitäten sind auffallend unkompliziert, schnell und hochmodern. Die Menschen freundlich und wenig aufdringlich. Die erste Fahrt führt ins Hotel, vorbei an Häusern unterschiedlichster Provenienz, aber keinesfalls arm wirkend.
Kurz darauf starten wir zu unserer ersten Tour durch die Tempelanlagen von Angkor. Das berühmte Angkor Wat ist nur die bedeutendste und größte dieser Anlagen. 52 dieser Tempel sind über ein riesiges Gebiet verteilt. Die Entfernungen sind ohne ein Fahrzeug nicht zu bewältigen, die Hitze macht einem die Dimensionen noch deutlicher.

Angkor
 
Die verstreute Lage der Tempel ist eine Überraschung, dazwischen liegen Felder, kleine Dörfer, Urwald. Miteinander verbunden ist alles durch schnurgerade Asphaltstrassen, auf denen Tuktuks, Autos, Sammeltaxis, Mopeds und Fahrräder entlang schunkeln.
Wo heute die Felder und Wälder liegen, waren während der Entstehungszeit dieser Tempel (zwischen 900 - 1400 n.u.Z.) viele Stauseen, die drei bis vier Reisernten pro Jahr ermöglichten. Da in diesem historischen Ballungsraum damals ca. 1. Mio. Menschen lebten, war eine ausgeklügelte Infrastruktur zur Ernährung der Menschen sicher notwendig.
Die Tempel selber sind Gebirge aus Stein. Dicke hohe Mauern umgeben von breiten, meist nicht mehr vorhandenen Wassergräben, begrenzen die Anlagen. Die Ausmaße sind gewaltig, bis zu drei Kilometer lang und drei Kilometer breit sind diese Begrenzungen. Der engere Tempelbezirk von Angkor Wat hat eine Ausdehnung von 1025 x 815 Metern. Darum herum schlingt sich ein künstlicher Wassergraben von bis zu 350 Meter Breite.
Die ganze mythologische Bedeutung dieser Anlagen zu erläutern, würde zu viel Raum einnehmen. Interessant ist aber, dass zu bestimmten Zeiten die Tempel gleichzeitig hinduistische und buddhistische Kultstätten waren. Auf dem Gelände sind neben den Tempeln und dem Allerheiligsten auch noch viele Nebengebäude, wie Klosterschulen und Bibliotheken. Die Wohngebäude der Mönche, Beamten, Tänzerinnen, Bramahnen und Bediensteten waren aus Holz und existieren heute nicht mehr.
Bis vor 100 Jahren war ein großer Teil der Anlagen von Urwald überwuchert, so wurden sie erst im 19. Jahrhundert von französischen Forschern entdeckt. Anders als die Legende es beschreibt war die Gegend aber bis in das 17. Jahrhundert bewohnt und hat immer eine Rolle im kulturellen Gedächtnis der Khmer gespielt.
An einigen wenigen Stellen kann man die Kraft der Natur heute noch sehen. Riesige Urwaldbäume umklammern mit dicken Wurzeln beide Seiten einer Mauer und haben auf der Mauerkrone ihr Lager aufgeschlagen. Manchmal umranken diese Wurzeln auch den Eingang eines Raumes, so dass Bilder aus Kinderbüchern vor dem geistigen Auge entstehen, bei denen Zwerge oder Feen den Eingang ihrer Behausungen im Wurzelwerk von Bäumen haben.


 
Bei diesem Anblick der Kraft der Natur fällt mir der berühmte Fontanesatz ein: 'Tand, Tand ist das Gebild von Menschenhand' Die Wahrheit dieses Satzes kann kaum plastischer dargestellt werden, denn die Wurzeln der Urwaldriesen sprengen die menschlichen Gebäude langsam aber gewiss. Deshalb werden diese Bäume auch – zur Rettung des Weltkulturerbes – fast alle gefällt.

Besonders beeindruckend an den Tempel sind die unterschiedlichen Friese, die mythologische oder historische Ereignisse erzählen, wobei mir immer die Ähnlichkeiten zur abendländischen Kultur ins Auge springen. Sie erzählen von Siebenköpfigen Schlangen wie in der Odyssee oder über Kämpfe zwischen Dämonen und Menschen, wie der Pergamonfries. Die Achillesferse ist hier in den Bauchnabel des Ravana, eines Dämonenkönigs verlegt, der die Frau des Königs Ramas entführt hat. Der trojanische Krieg lässt grüssen. Die Göttin Lakshmi, die Frau von Schiva wird, wie Aphrodite, aus dem Schaum des Meeres geboren.
Wie die Figur eines Kirchenportals

 Bewegend auch die Darstellung einer Art „jüngstes Gericht“. Unser Führer erläutert uns die Darstellung, beschreib die Hölle und eine qualvolle Folter mit den Worten. 'Diese kommen sofort in die Hölle, wie die roten Khmer, die ihre Eltern umgebracht haben.' und plötzlich sprudelten – lächelnd erzählt – die Erlebnisse aus ihm heraus, die er als 12jähriger Knabe erlebt hatte. Drei Jahre acht Monate und 20 Tage seiner Jugend waren geprägt von Hunger, Gewalt und Willkür. Als sein Vater eines Tages für seine Familie eine Wassermelone vor den roten Khmer verstecken konnte, mussten die Familie diese nachts heimlich und vollständig aufessen, denn die Schalenreste hätten sie verraten und sie wären schwer bestraft oder sogar umgebracht worden, wenn diese gefunden worden wären.
So schliesst sich der Kreis der Höllendarstellung am Angkor Wat Tempel aus dem 12. Jahrhundert mit den Erfahrungen der Menschen des 20. Jahrhunderts.
Auf den Straßen von Siem Reap merkt man nichts mehr von dieser Vergangenheit. Im Gegenteil, die Stadt wirkt sehr aufgeräumt. Im Zentrum in der Nähe des alten Marktes stehen Häuser im französischen Kolonialstil, proper saniert und mit gepflegten Restaurants. Im Grand Cafe kann man ein petit dejeune einnehmen und sich ein wenig wie ein Kolonialbeamter fühlen, wenn man am Mittag seinen ersten Gin-Tonic zu sich nimmt. Das Straßentreiben ist bunt und die Hitze unter den Ventilatoren des Gran Cafe erträglich.

Samstags Abend kann man in Siam Reap auch einem außergewöhnlichen Event beiwohnen. Ein Schweizer Arzt, Beat Richner, hat hier ein hochmodernes Kinderkrankenhaus gebaut und um die Finanzierung zu sichern, gibt er jeden Samstag um 19:15 Uhr ein 'Konzert', wo er in einer Mischung aus Cellokonzert, Vortrag und Filmvorführung über sein Projekt informiert.
Die Leistungen, die er erbracht hat sind bemerkenswert. Fünf Kinderkrankenhäuser in Siam Reap und Phnom Penh mit inzwischen mehr als 2000 Mitarbeitern zu fast 90% aus Spenden finanziert, helfen hunderttausenden von Kindern kostenlos. Was uns selbstverständlich erscheint, ist hier eine Seltenheit. Und nicht nur das, hier wird nach westlichem und nicht nach arme Länder Standard behandelt. Der erste Computerthomograph Kambodschas steht in seinem Kinderkrankenhaus.
Ein bemerkenswerter Mann! Allerdings gerät seine Veranstaltung zu einer Selbstdarstellung mit einer gnadenlosen Philippika, gegen die Schweizer und kambodschanische Regierung, gegen die WHO und andere internationale Organisationen. Er hat gute Argumente auf seiner Seite, aber der Eindruck drängt sich auf, dass er sich zu viele Feinde macht in seinem Kampf für eine bessere Gesundheitsversorgung in den armen Ländern der Welt. Es ist aber sehen- und hörenswert was dieser Mann zu sagen hat und jeder sollte dieses – auch architektonisch interessante – Krankenhaus besuchen und sich eine eigne Meinung über ihn und seine Ideen bilden. Unsere kleine Gruppe jedenfalls diskutiert beim nachfolgenden Abendessen darüber und gerät in heftigen Streit, es scheint: der Mann polarisiert.

Die letzte Station unserer Reise in Kambodscha ist ein Besuch des Tonle Sap, ein riesiger See von über 200km Länge, der kurz vor Phnom Penh in den Tonle Sap Fluß übergeht, der schließlich in den Mekong mündet. Einzigartig ist, dass der Tonle Sap Fluß immer während der Regenzeit auf Grund der Wassermassen des Mekong die Fließrichtung ändert, so dass der Pegel des Sees um bis zu 10 Meter steigt. Der See ist dann viermal so groß wie zur Trockenzeit.
Weil das Wasser des Sees derart stark steigt sind alle Häuser der Umgebung auf Stelzen gebaut und ein Teil der Bewohner dieser Gegend lebt in schwimmenden Dörfern. Diese besuchen wir. Der Tourismus ist darauf eingestellt, die Preise sind standardisiert. So fahren wir mit Fahrer zu einem kleinen Hafen. Die Fahrt ist erschütternd, nicht wegen des katastrophalen Zustands der Straße, sondern weil wir durch ein Gebiet bitterster Armut kommen. Wir kommen vorbei an Hütten, die aus nicht viel mehr als aus einem mit Palmenblättern bedeckten Dach bestehen. Darin lebten Familien. Wir besichtigen Armut! Das ist beschämend und wichtig gleichzeitig. Auffallend aber, dass die Menschen trotz dieser Armut (und nicht alle sind arm) nicht unglücklich wirken. Man sieht eine Unzahl von Kindern und ganz selten nur sieht man eines Schreien oder Weinen. Ein hoch interessantes Phänomen.
Der „Hafen“ stellt sich als eine Anlegestelle im Fluss heraus. Das Boot ist eine überdachte schmale Kabasse. Kurz nach unserer Abfahrt steht plötzlich ein kleiner Junge zwischen uns und bietet uns Getränke und Bananen an. Der Junge vielleicht drei oder vier Jahre alt, ist von seinem Vater, mit einem einfachen, aber sehr schnellen und wendigen Boot, welches nur mit einem schmalen Holzpaddel gesteuerte wird, abgesetzt worden. Nachdem der Junge uns etwas verkauft hat, steuerte der Vater erneut bei und nimmt den Jungen wieder auf.

Auf dem Tonle Sap

Die Ufer des Flusses sind gesäumt von Hausbooten, darunter waren auch Schulen und eine Turnhalle in einem schwimmenden Drahtkäfig. Auf dem See angekommen, fahren wir an hunderten von Hausbooten, teilweise als Läden oder Supermärkte eingerichtet, vorbei und schauten den Menschen ins „Wohnzimmer“. Ein Hausboot mit schwimmendem Schweinestall entdeckten wir ebenfalls.
Sicher 500 Meter von dem Dorf entfernt auf „hoher See“ ist ein Touristentreffpunkt mit Souvenirshop und kleiner Krokodilfarm.

 Dorthin kam ein kleiner Junge, sicher nicht älter als drei Jahre, mit atemberaubendem Tempo in einer Blechschüssel angerudert! Die Souveränität des Jungen im Umgang mit diesem Gefährt schlägt alle vermutlich alle Erfahrungen unserer paddelnden, hoch subventionierten und beklatschten Spitzensportler.

Zurück geht es im Eiltempo, der Ausflug war kurz, aber stimmt nachdenklich. Eines ist gewiss: Unsere Maßstäbe lassen sich bei aller erkennbaren Armut nicht auf diese Welt anlegen, es ist vermutlich für einen Europäer unmöglich diese Kultur wirklich zu verstehen. Mit Urteilen sollten wir sehr vorsichtig sein.

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