Armes San Franzisco

Das Loblied auf die Stadt ist schnell gesungen, multikulturell, tolerant, weltoffen, eine großartige Lage, ein mildes Klima, phantastische  Architekturen, freundliche Menschen. Toll. Anregend. Sympathisch.
Wenn da nicht, ja wenn da nicht diese unglaublich sichtbare Armut wäre. Überall in der Stadt, in den Straßen, auf den Plätzen, auf Mauern oder in Grünanlagen, liegen, laufen, schlafen, zerlumpte, dreckige, verwahrloste, verwirrte Menschen. Nicht ein paar wenige, hier und da, sondern überall. Menschliche Wracks, Einzelne, Paare, Gruppen.



Ein auf dem kahlen Betonboden liegendes Pärchen, innig umschlungen, schlafend, dreckig und stinkend, Nachmittags, direkt vor dem Prachtbau des Rathauses. Eine alte, blicklose Frau, die unbeweglich einen Laternenposten umarmt.  Ein Kriegsinvalide ohne Arm, barfuß, sich mühsam im Rollstuhl vorwärts hangelnd.


Grauen erfasst uns. Wir mögen kaum hinschauen, genau wie all die Touristen und Bewohner, die den Blick senken, ausweichen, die Straßenseite wechseln, um das  eigene Scheitern beim Blick auf die Gescheiterten nicht wahrnehmen zu müssen.
Wenige Schritte entfernt wurden im Juni 1945 die Menschenrechte als Gründungsakt  der Vereinten Nationen deklariert. Großartige Ideale, denen in einem der reichsten Länder der Welt Massen an menschlichen Trümmern gegenüber stehen. Geld allein, wird dieses Problem nicht lösen, denn das Schlimmste was diesen  Menschen genommen wurde, ist die Hoffnung und das in dem Land das einmal für ganz große Hoffnung stand. Vor der Kathedrale der Stadt treffen wir einen Pfarrer und sprechen ihn an, fragen ihn wieso hier so viele Obdachlose sind, er scheint ein wenig überrascht und auch ahnungslos, erzählt aber, dass das Klima hier natürlich angenehm sei und es nachts nicht so kalt werde, dass ziehe viele an.

Was würde die blinde Justizia dazu sagen? Wie würde sie urteilen über die Bewohner dieser Stadt? Würde der biblische Abraham auch für diese Stadt kämpfen, wie damals für Sodom? Ein gewagter Vergleich, gewiss, aber der Anblick ist erschütternd, wissend, dass wir bei uns auch nicht so weit davon entfernt sind.

Sind wir besser als jene "Sylter und Schwabinger Schwimmer auf süsser Suppe, denen nach Revolution dürstet, die jedoch nicht das Geringste herzugeben bereit sind, obwohl sie genau wissen, das die Welt nicht genug hergibt, damit alle so leben könnten wie sie", von denen Erhard Kästner schrieb? Tun wir wirklich etwas außer unser eigenes Gewissen zu beruhigen, wenn wir auf einem Halbmarathon joggen, der sich wahlweise für Frieden oder gegen Armut ausspricht? Die Armut begegnet uns in allen großen Städten der USA,  die wir auf dieser Reise besuchen.

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